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Lovis Kauertz

Die waidgerechte Bejagung der Wildsau …

ist lange Vergangenheit - oder hat es die überhaupt nie gegeben? Artikel hören - Der durch viele kritische Veröffentlichungen und Vorträge zur Jagd bekannte Schweißhundführer Seeben Arjes äußerte sich schon vor 20 Jahren dahingehend, dass nach seinen Beobachtungen die Hälfte aller im Sommer in den Feldern erlegten Sauen säugende Muttertiere sind [1]. Ein eklatanter Verstoß gegen alle Regeln, der aber selten zu strafrechtlichen Konsequenzen, nicht einmal zur Ächtung entsprechend handelnder Jäger führt.


Dieter Bertram, Bundesobmann der Berufsjäger a.D., beklagt im Mai 2021 in einem offenen Schreiben [2] an zuständige PolitikerInnen, dass selbst gestandene Schweißhundführer ihre Nachsuchenarbeit einstellen, weil es unerträglich geworden sei, verendete Bachen aufzufinden, an denen die Frischlinge säugen.

Wildschwein mit jungen gestreiften frischlingen
Wildsau mit Frischlingen, Bild: Detlef Hinrichs

Richtig ist wohl, dass klimatische Veränderungen das Nahrungsangebot für Wildschweine verbessern und das die Reproduktion begünstigt. Richtig ist aber auch, dass riesige Mais- und Rapskulturen das Nahrungsangebot zumindest kurzfristig bereichern, ebenso wie das in vielen Bundesländern noch immer nicht restriktiv geregelte Kirren [Füttern zum Anlocken des Wildes]. Ein ganz wesentlicher Aspekt der gefühlt hohen Schwarzwildbestände ist aber auch die politisch forcierte völlig undifferenzierte und damit kontraproduktive Bejagung dieser hochentwickelten Tierart.


Einen bislang letzten Todesstoß für jegliche tierschutzverträgliche Jagd auf das Borstenvieh haben wir Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt und seinen Ressortkollegen in den Ländern zu verdanken, die sich 2018 von der bundesweiten Aufhebung der Schonzeit für das Schwarzwild eine präventive Maßnahme im Hinblick auf die nahende Afrikanische Schweinepest (ASP) versprachen.


Dabei hätte man schon seit 2013 in Rheinland-Pfalz beobachten können, dass jegliche Intensivierung der Schwarzwildjagd hinsichtlich einer wirksamen Bestandsreduzierung nicht zielführend ist. In Nordrhein-Westfalen wird die Schonzeitaufhebung in diesem Monat zunächst (!) bis zum Jahr 2028 festgeschrieben [3]. Die Berater gestehen gar ein, dass der Bestandsentwicklung des Schwarzwildes in NRW mittels ihrer Maßnahmen gar nicht nachgekommen werden kann.


Für diese Politklasse gibt es Tierschutz allenfalls auf dem Papier: Es geht bei der Jagd auf das Schwarzwild wohl allein darum, Konflikten mit der exportierenden Schweineindustrie (über 60 Millionen Hausschweine werden pro Jahr in Deutschland geschlachtet) mit seinen oft prekären Arbeitsverhältnissen aus dem Weg zu gehen. Die Massentierhalter befürchten die Kontaminierung ihrer in engen Ställen und tierquälerischen Sauständen gehaltenen Geschöpfe durch die Wildsau. Dass dieses Szenario durch extrem hohe Hygienestandards rund um die Höfe kaum möglich ist, interessiert dabei niemanden. Die ASP gelangt nicht durch die Wildsau in den Schweinestall, sondern wie erst im vergangenen Jahr in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg durch Menschen, die sich nicht an Regeln halten.


Es ist eine dreiste Fehleinschätzung, wenn eine Verordnung wie jetzt in Nordrhein-Westfalen, damit begründet wird, durch die dauerhafte Aufhebung der Schonzeit für Wildschweine deren Bestand zu reduzieren. Die von der Politik forcierte Intensivierung der Schwarzwildjagd, die seit etwa 15 Jahren nach und nach sämtliche Tierschutznormen abgebaut und dazu sämtliche noch intakten Sozialstrukturen im Bestand zerschossen hat, ist – wie die Zahlen belegen – nicht mehr als ein Rohrkrepierer.


Wenn die Wildschweinbestände nach der Jagd höher sind als davor, sollte sich doch auch mal eine Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadenverhütung fragen, warum die technische Aufrüstung der Jägerschaft, die Jagd während der Nacht mit künstlichen Lichtquellen, der Einsatz tierquälerischer Saufänge und die Aufhebung der Schonzeiten nicht zum Erfolg hinsichtlich der Reduzierung der Zahl der Wildschweine führt.


Die Entwicklung der Zahl der jährlich getöteten Wildschweine steigt trotz größter jagdlicher Anstrengungen kontinuierlich: Von durchschnittlich 477.000 erlegten Wildschweinen pro Jahr vor zehn Jahren auf 625.000 im Jagdjahr 2020/21. Der aktuelle Bestand des Schwarzwilds in Deutschland dürfte nach den Berechnungen von Wildtierschutz Deutschland bei etwa 1,5 bis 1,7 Million Tieren liegen, etwa 500.000 Wildschweine mehr als noch vor 10 Jahren.



Zuletzt im Dezember 2020 hat Wildtierschutz Deutschland das mit Julia Klöckner unglücklich besetzte Landwirtschaftsministerium und die zuständigen MinisterInnen in den Ländern darauf hingewiesen, dass mit einem immer mehr und immer weiter so, die Politik in Sachen tierschutzkonformer Bestandsreduzierung auch in Zukunft scheitern wird [4]. Sämtliche Maßnahmen – damals wie heute - resultierten aus dem Herdenverhalten der zuständigen Politiker und deren Beratern und werden nach jahrelangem Misserfolg auch künftig das Blatt nicht wenden.


Wildtierschutz Deutschland empfiehlt im Hinblick auf eine Begrenzung des Bestands, der bei einem „weiter so“ in den kommenden Jahren die Zahl von über zwei Millionen Wildschweinen überschreiten dürfte, die folgenden Maßnahmen:


  • Zentrale, bundesweite Koordinierung eines Schwarzwild-Bestandsmanagements in Zusammenarbeit mit lokalen Hegegemeinschaften. Ziel: koordinierte einheitliche bundesweite Vorgehensweise, ohne Ausnahmen in ASP-freien Revieren.

  • Reduzierung des Jagddrucks durch die Einführung von Schonzeiten für alle Altersklassen vom 1. Januar bis 30. September eines Jahres. Jagdlicher Eingriff ausschließlich in die Klasse der Frischlinge und Überläufer. Vollschonung von adulten Sauen, insbesondere von Bachen. Konsequente strafrechtliche Verfolgung nicht waidgerechter Jagdausübung. Verpflichtende Erfassung der Altersstruktur der erlegten Tiere. Ziel: Hohes ASP-Ansteckungsrisiko durch Jungtiere reduzieren. Aufbau von intakten reproduktionsmindernden Rottenstrukturen.

  • Durchführung von Bewegungsjagden im November und Dezember ausschließlich als Ansitzjagden. Unterbindung des Einsatzes von hochläufigen und/oder stumm jagenden Hunderassen im Rahmen von Drückjagden. Ziel: Beibehaltung der Ortstreue adulter Tiere. Gewährleistung der Einhaltung von Tierschutznormen.

  • Schaffung von Überwachungsinstrumenten für die Populationsdichte von Wildschweinen, die möglicherweise nicht ausschließlich auf Streckendaten basieren.

  • Begleitende Forschung und Feldversuche zur Verabreichung von Kontrazeptiva.

  • Begleitende Forschung zur Dynamik der Wildschweinpopulationen und den Möglichkeiten zur Kontrolle der Schwarzwildbestände.

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[1] Seeben Arjes "Die Würde des Tieres ist antastbar" u.a. veröffentlicht in „Wildhüter St Hubertus“, Sonderheft „Denkschrift Jagd“ 2022

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