Hören - Vogelbeobachter an einem See beklagen, es gäbe viel zu viele Graugänse, es sei alles voll mit ihrem Dreck. Wochen später am selben Ort, dieselben Personen sind anwesend. Am Ufer grast eine erwachsene Graugans mit zwei ganz kleinen Küken. Etwa 20 Rabenkrähen umringen die Gänse und warten auf eine Gelegenheit. Schließlich packt eine der Krähen ein Küken mit ihrem Schnabel am Hals und fliegt mit ihrer Beute davon. Die übrigen Krähen setzen die Belagerung fort. Die Emotionen kochen hoch, die Männer brüllen den schwarzen Vögeln wüste Schimpfworte entgegen.
Das Mitgefühl der Vogelbeobachter mit dem schwachen und verletzlichen Küken, mit dem noch sehr jungen Leben ist verständlich. Die Krähen hatten leichtes Spiel, weil der wachende Ganter fehlte – auch das letzte Küken wurde wenig später erbeutet. Räuber? Raubvögel? Wie schnell fällen wir ein Urteil, wie schnell unterteilen wir die Tiere in gut und böse, nützlich und schädlich.
Bei hoher Schneelage im Winter beobachtete ich, wie ein Turmfalke eine Amsel erbeutete. Der Mäusejäger war sichtbar mit dem viel zu großen Vogel überfordert, der sich nach Leibeskräften wehrte. Der Turmfalke in winterlicher Hungersnot schaffte es trotzdem irgendwann, für die Amsel waren es grausame Minuten an ihrem Lebensende. Ich hätte den Falken verjagen können, stattdessen beobachtete ich alles still aus nur wenigen Metern Entfernung. Mancher Leser wird sicherlich fragen: Wie konnte ich tatenlos zusehen? Was aber wäre passiert, wenn ich eingegriffen hätte? Möglicherweise wäre die Amsel an ihren Verletzungen dennoch gestorben. Möglicherweise wäre auch der Turmfalke gestorben – verhungert, weil er bei der Schneelage kaum eine Chance hatte Mäuse zu fangen, seine eigentliche Beute.
Aus unserer menschlichen Perspektive geht es in der Natur nicht selten grausam zu. Jeder kennt die Jagdszenen von Löwen auf Gnus oder andere Tiere in der afrikanischen Savanne aus dem Fernsehen. Es ist eine Gefühlsmischung aus Grausamkeit und Faszination, die bei vielen dieser Fernsehdokus bis zum Letzten ausgekostet wird. Viele Beutegreifer ziehen uns durch Kraft, Schönheit und Eleganz in ihren Bann. Den jagenden Löwen, Geparden oder Adler gönnen die meisten Fernsehzuschauer ihre Beute, viele fiebern mit dem Jäger mit, andere aber auch mit dem Gejagten. Die meisten Jagdszenen in der Natur sind aber weitaus weniger spektakulär.
Der Turmfalke kämpft nur extrem selten mit einer sich wehrenden Amsel, sondern plumpst viel mehr aus dem Rüttelflug heraus ins Gras um dann mit einer gefangenen Feldmaus zum nächsten Weidepfahl zu fliegen. Kaum jemand dürfte dabei in irgendeiner Weise um die Maus trauern. Einen Fuchs bei der Mäusejagd zu beobachten ist ein wahres Vergnügen: Er bleibt stehen, hält inne, die Ohren maximal aufgerichtet, dreht oft taxierend den Kopf, springt wie katapultiert in die Luft und landet im fast senkrechten Fall auf der Maus. Kurz wird die Beute durchgekaut, verschlungen und weiter geht´s – es können mal fünf oder auch zehn Mäuse in kurzer Zeit im Magen des Fuchses verschwinden.
„Fuchs, du hast die Gans gestohlen…“, wie kaum ein anderes prägt dieses Lied unsere Vorstellung vom Beutegreifer als Schädling. Wie kein anderes heimisches Wildtier wird der Fuchs seit Jahrhunderten gejagt, gehetzt, mit Fallen gefangen und als Jungtier am Bau getötet. „Left me to die like a fox on the run“ (Ließ mich zum Sterben zurück wie ein Fuchs auf der Flucht) – diese Textzeile von Manfred Mann´s Earth Band verrät viel über die Rolle des Fuchses in unseren Köpfen bzw. über unseren Umgang mit ihm: Er ist ausgeliefert, zum Sterben bestimmt.
Noch drastischer ist bzw. war unser Bild vom Wolf. Seine weiträumige Ausrottung wurde wie ein Sieg über das Böse gefeiert, Denkmäler wurden an den Orten der Tötung von Wölfen errichtet. Schließlich weit zurückgedrängt nach Osteuropa wurde er hierzulande zur Ikone für die wilde ungezähmte Natur stilisiert. Jetzt ist er zurück, entzaubert vom Mythos der Wildnis bewohnt er zum Beispiel die Wälder am Rand des Ruhrgebietes. Wölfe in Bottrop – wer hätte das für möglich gehalten? Leider haben wir den Umgang mit ihnen in den Jahrhunderten ihrer Abwesenheit verlernt – sofern wir ihn jemals überhaupt gelernt hatten. Der Wolf hat heute viel mehr Freunde als früher, aber leider hat er weiterhin sehr viele Feinde und die alte Rhetorik vom bösen Wolf ist wieder da.
Bei allem verständlichen Mitgefühl mit den Gejagten, mit den Tieren, die zur Beute anderer werden, mit denen die ständig auf der Hut sein müssen: Es ist das uralte fressen und gefressen werden, das hunderttausendfach länger als die Menschheit existiert. Die Beziehungen zwischen Beutegreifern (=Prädatoren) und Beutetieren sind seit vielen Millionen Jahren Motor der Evolution, Antrieb für die Entstehung unzähliger wunderbarer Tierarten mit all den faszinierenden Fähigkeiten und Sinnesleistungen.
Für diese Vorgänge fehlt es uns Menschen häufig an Verständnis und Respekt, Prädatoren werden allzu schnell zum „Raubzeug“. Wir glauben oft, in diese natürlichen Prozesse eingreifen zu müssen, ohne ihr Wirken zu verstehen. Die massenhafte Tötung von Füchsen kann ein Restvorkommen einer hochgradig bedrohten Art kaum retten. Und: Was tun wir den Füchsen an, indem wir sie in Fallen fangen, um sie zu töten, mit Hunden aus dem Bau jagen, um sie zu erschießen oder gar ihre Jungen beim Spielen am Bau umbringen? Was tun wir dem Ökosystem und letztlich uns selbst damit an?
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Dr. Martin Steverding, Diplom-Biologe, Dissertation über die Nahrungsökologie von Spechten im Bialowieza-Urwald, Polen. Langjährig aktiver Ornithologe, aber auch in der Säugetierkunde, Herpetologie und Entomologie tätig. Langjährig im Eulenschutz (schwerpunktmäßig Steinkauz) aktiv, weitere Schwerpunktthemen bzw. -arten sind u. a. Uhu, Fuchs, Dachs, Biber und Greifvögel.
Wohnort: Rhede (Westfalen)
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