Weite Reise in die Nacht
- Dr. Martin Steverding
- 14. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 28. Okt.
Hör doch mal rein | Nachts ist es dunkel – diese Aussage ist nicht so banal, wie sie klingt. Deutschland ist in weiten Teilen derart mit künstlichem Licht überzogen, dass es mitnichten nachts wirklich dunkel ist. Auch in mondlosen Nächten kann man sich an den meisten Orten ohne Lampe zurechtfinden, vielerorts ist es gar nachts so hell, dass ganze Landschaften visuell wahrnehmbar sind. Die meisten Bewohner Deutschlands haben vergessen oder noch nie erlebt, wie dunkel es nachts sein kann. Echte nächtliche Dunkelheit ist kaum noch erlebbar, zu dicht ist das Land mit beleuchteten Städten, Dörfern und Straßen überzogen.

Das Erlebnis echter ungestörter Nacht gehörte zu den beeindruckendsten Momenten meiner diesjährigen Litauenreise. Das Dorf Marcinkonys liegt in einer äußerst dünn besiedelten Region im Dzukija-Nationalpark im Südosten Litauens nahe der Grenze zu Belarus. Es ist eine große Streusiedlung mit weit auseinanderliegenden Häusern, die durch unbefestigte Sandpisten erschlossen sind, Straßenbeleuchtung ist nicht vorhanden. Meine Unterkunft war eine weit außerhalb dieses ohnehin schon dunklen Dorfs gelegene Waldhütte. Ich erlebte dort fünf mondlose Septembernächte. Etwa eineinhalb bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang war es so dunkel, dass sich gerade noch die Bäume gegen den Himmel abzeichneten, der Boden oder die eigenen Füße waren auch außerhalb des Waldes nicht mehr erkennbar und die Wege konnte ich nicht mehr sehen. Ich konnte nur auf den Einsatz der störenden Lampe verzichten, weil die Wege durch die Wärmebildkamera leidlich erkennbar waren.
Der Sternenhimmel mit der sich von Horizont zu Horizont erstreckenden Milchstraße war überwältigend. Hinzu kam die Stille, zeitweise eine völlige Abwesenheit wahrnehmbarer Geräusche, die nur hin und wieder von Hundebellen oder einem einzelnen Auto durchbrochen wurde – letzteres unter diesen Bedingungen kilometerweit hörbar.
Mir wurde bewusst, wie weit man reisen muss, um eine echte Nacht zu erleben. Mir wurde ebenso bewusst, wie hilflos wir Menschen in einer natürlichen und ungestörten mondlosen Nacht sind. Umso faszinierender ist es, dass vielen Tieren das minimale und für uns Menschen kaum noch wahrnehmbare Licht zur Orientierung ausreicht. Eulen und viele Säugetiere können sich problemlos fortbewegen oder auch Nahrung finden bzw. Beute machen, wenn wir Menschen praktisch nichts mehr erkennen.
Wir haben aufgrund unserer naturgegebenen Nachtblindheit unser Umfeld so sehr mit Beleuchtung aller Art überzogen, dass die echte Nacht in Mitteleuropa kaum noch existiert. Dieser Zustand wird mit vollem Recht als Lichtverschmutzung bezeichnet, denn das künstliche Licht ist ebenso wie Abgase, Gifte und auch Lärm eine massive Form der Umweltverschmutzung mit weitreichenden Folgen.
Milliarden von Insekten werden von Lampen angelockt und gehen dort zugrunde. Viele Fledermausarten meiden die Nähe jeglicher Beleuchtung, ein natürliches Verhalten, um nicht von Eulen und Greifvögeln erwischt zu werden. Beleuchtete Straßen können für sie unüberwindbare Barrieren sein. Zugvögel werden insbesondere bei schlechter Sicht von Licht angelockt und können massenhaft auf Straßen oder an Gebäuden verunglücken. In den Städten beeinflusst die Beleuchtung den Hormonhaushalt von Tieren, beispielsweise singen viele Vögel dort mitten im Winter und beginnen früher mit der Brut.

Wir haben in Mitteleuropa die Nacht weitgehend verdrängt. Sie ist zu einem bedrohten Gut geworden, für das man weit reisen muss, um es zu erleben. Die stille und tiefschwarze Nacht unter dem überwältigenden Sternenhimmel in der Abgeschiedenheit des litauischen Waldes wird unvergessen bleiben.








