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Speziesismus bei Wildtieren – wenn der Wert nach Tierart beurteilt wird

  • Susanne Schüßler
  • vor 4 Stunden
  • 4 Min. Lesezeit

Speziesismus beschreibt die Ungleichbehandlung von Lebewesen allein aufgrund ihrer Artzugehörigkeit. Während der Begriff häufig im Zusammenhang mit Nutztieren oder Haustieren verwendet wird, zeigt er sich besonders deutlich im Umgang mit Wildtieren. Sie leben außerhalb unserer direkten Kontrolle, und doch ordnen wir auch ihnen einen Wert zu, der selten auf ihrem individuellen Leben beruht, sondern auf unseren Vorstellungen, Bedürfnissen und Emotionen.


Wildtiere begegnen uns oft nur flüchtig, am Rand eines Feldes, im Schutz des Waldes oder als Silhouette in der Dämmerung, und doch tragen wir klare Bilder von ihnen in uns. Märchen haben ihren Anteil dazu beigetragen, Lieder ebenso. Manche Arten gelten als schön und schützenswert, andere als störend oder gefährlich, obwohl sie alle Teil derselben natürlichen Welt sind. Diese Einordnung geschieht selten bewusst, sondern folgt tief verankerten Vorstellungen darüber, welches Leben als wertvoll gilt und welches nicht. Genau hier beginnt Speziesismus, der sich im Umgang mit Wildtieren zeigt, aber weitreichende Folgen hat.


Ein Reh gilt vielen als anmutig und schützenswert, während ein Wildschwein schnell als Bedrohung wahrgenommen wird. Bild: Adobe Stock
Ein Reh gilt vielen als anmutig und schützenswert, während ein Wildschwein schnell als Bedrohung wahrgenommen wird. Bild: Adobe Stock

Wenn Mitgefühl selektiv wird

Speziesismus bei Wildtieren zeigt sich auch darin, wie wir Leiden wahrnehmen oder ignorieren. Ein verletzter Singvogel ruft Mitgefühl hervor, während das langsame Verhungern eines Wildtiers im Winter oft als natürlicher Lauf der Dinge abgetan wird. Ein Reh gilt vielen als anmutig und schützenswert, während ein Wildschwein schnell als Bedrohung wahrgenommen wird. Der Fuchs wird bewundert, solange er im Wald bleibt, verliert diese Bewunderung jedoch, sobald er hungrig im Garten auftaucht. Der Wolf steht symbolisch für Wildnis und Freiheit, wird aber gleichzeitig gefürchtet und bekämpft, sobald er Nutztiere reißt. Ratten werden völlig gehasst, obwohl sie enorm kluge Wildtiere sind, und der Maulwurf sollte in einem Garten überhaupt nicht auftauchen. Diese Bewertungen haben wenig mit dem Tier selbst zu tun und viel mit unserer menschlichen Perspektive, die Nutzen, Nähe und Störung gegeneinander abwägt. Wir trennen gedanklich zwischen „echter Natur“ und menschengemachten Einflüssen, obwohl diese Grenzen längst verschwommen sind. Wildtiere werden dadurch nicht als Individuen gesehen, sondern als Vertreter einer Art, der bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden.


Natürliche Ordnung oder menschliche Verantwortung

Oft wird argumentiert, dass Leid in der Natur dazugehöre und Teil eines natürlichen Kreislaufs sei. Dabei wird übersehen, wie stark menschliches Handeln die Lebensbedingungen von Wildtieren verändert hat. Zerschnittene Lebensräume, intensive Landwirtschaft, Verkehr und Bebauung zwingen Tiere dazu, sich anzupassen und neue Wege zu finden, um zu überleben. Wenn Wildtiere dann in Not geraten, wird ihr Leiden dennoch als unvermeidlich dargestellt, obwohl es häufig direkte Folge menschlicher Eingriffe ist. Diese Trennung zwischen Natur und Verantwortung dient nicht selten dazu, eigenes Handeln nicht hinterfragen zu müssen.


Problemwildtiere und moralische Urteile

Besonders deutlich wird dies bei sogenannten „Problemwildtieren“. Tiere, die sich an unsere Kulturlandschaften anpassen, werden schnell zur Zielscheibe von Regulierung, Vergrämung oder Tötung. Dass sie lediglich auf veränderte Umweltbedingungen reagieren und versuchen zu überleben, spielt in der Bewertung oft keine Rolle. Ihr Verhalten wird moralisiert und bewertet, obwohl es instinktiv und lebensnotwendig für sie ist. Als wären sie absichtlich rücksichtslos, versuchen sie doch nur, Nahrung und Schutz zu finden. Dass sie keine Wahl haben, bleibt dabei meist unbeachtet, während der Mensch sich selbst das Recht zuspricht, über Leben und Tod zu entscheiden. Wenn es um unser eigenes Leben gehen würde, wenn wir unsere Kinder oder unsere Lieben schützen müssten, dann würden wir ebenfalls unseren Instinkten folgen und alles Erdenkliche tun. Tiere wollen auch nur überleben.


Der Mensch über allen anderen Arten

Speziesismus bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur, Tiere untereinander zu hierarchisieren, sondern auch, den Menschen grundsätzlich über alle anderen Arten zu stellen. Wildtiere dürfen existieren, solange sie uns nicht einschränken oder unsere Ordnung infrage stellen. Ihr Lebensrecht wird an Bedingungen geknüpft, die wir festlegen, wodurch sie ihren Eigenwert verlieren. Dabei erfüllen alle Wildtiere unverzichtbare Aufgaben in ihren Ökosystemen, halten natürliche Kreisläufe im Gleichgewicht und tragen zu einer Vielfalt bei, von der letztlich auch der Mensch abhängt.


Ein anderer Blick auf das Zusammenleben

Ein bewussterer Umgang mit Wildtieren beginnt mit der Frage, warum wir bestimmte Arten schützen und andere bekämpfen. Wenn wir anerkennen, dass Wildtiere keine Gäste in unserer Welt sind, und schon gar nicht Nutzvieh, sondern Mitbewohner dieses Planeten, wie du und ich, verändert sich der Blick auf Konflikte und Lösungen. Speziesismus bei Wildtieren sichtbar zu machen, bedeutet nicht, Konflikte zu leugnen oder Risiken zu ignorieren. Es bedeutet vielmehr, Verantwortung zu übernehmen für die Lebensräume, die wir verändert haben, und für die Maßstäbe, nach denen wir Leben bewerten. Erst wenn wir Wildtiere nicht länger nach Sympathie oder Zweckmäßigkeit beurteilen, sondern als fühlende Lebewesen mit eigenem Wert anerkennen, kann ein respektvolleres Zusammenleben entstehen. Es geht nicht darum, Probleme zu leugnen, sondern darum, Wege zu finden, die das Leben aller Beteiligten respektieren. Wildtierschutz bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur Schutz einzelner Arten, sondern auch die Anerkennung ihres Rechts auf Existenz.


Respekt als Grundlage für Zukunft

Speziesismus sichtbar zu machen heißt, genauer hinzusehen, uns selbst zu hinterfragen und die Maßstäbe zu prüfen, nach denen wir Leben bewerten. Erst wenn Wildtiere nicht nach unseren persönlichen Empfindungen und Launen verurteilt werden, können sie ihr Dasein leben. Ein Zusammenleben, das die Vielfalt des Lebens nicht als Problem begreift, sondern als Wert, den es zu schützen gilt. Wildtierschutz Deutschland e. V. setzt sich genau dafür ein, Wildtiere als fühlende Lebewesen mit eigenem Wert wahrzunehmen und ihnen den Raum zu lassen, den sie für ein würdevolles Leben benötigen.

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