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  • Dr. Martin Steverding

Akrobat und Verteidiger – der Kiebitz

Hören - Der Luftraum über dem nassen Feld ist in Kiebitzhand. Keine Krähe, kein Graureiher und kein Bussard kann ihn überfliegen, jeder Beutegreifer wird von einer ganzen Schar Kiebitze heftig attackiert und vertrieben. Wer einmal Erfahrung mit den Luftattacken der Flugakrobaten gemacht hat, der fliegt künftig einen weiten Bogen um diesen Ort. Es ist eine kleine Ackerparzelle mit Maisstoppeln aus dem Vorjahr, die wegen defekter Drainage und einem regenreichen Frühjahr nicht bestellt werden konnte. Eine ganze Kolonie von 17 Kiebitzpaaren hat sich hier zum Brüten eingefunden und bildet eine überlegene Verteidigungsgemeinschaft. Auch Beutegreifer auf dem Boden, wie Fuchs und Marder, dürften Schwierigkeiten haben, diesen Acker zu betreten.

Unser Konsumverhalten und die intensive Landwirtschaft mit Gülle und Pestiziden machen dem Kiebitz das Überleben schwer.
Unser Konsumverhalten und die intensive Landwirtschaft mit Gülle und Pestiziden machen dem Kiebitz das Überleben schwer. Bild: Dr. Martin Steverding

Leider liegt diese Beobachtung weit über 20 Jahre zurück. Damals brüteten in der weiträumig offenen Feldflur in der Niederung der Bocholter Aa im Kreis Borken (NRW) dreistellige Zahlen von Kiebitzen auf wenigen Quadratkilometern. Sie bildeten viele kleine Kolonien mit jeweils mehreren Brutpaaren. Durch ihr enormes Fluggeschick, ihre kaum zu überbietende Wendigkeit und durch ihre Anzahl waren sie äußerst effektive Verteidiger ihrer Bruten, die ansonsten auf dem kahlen Ackerboden schutzlos gewesen wären.


In der Verteidigung ihrer Bruten sind Kiebitze so erfolgreich, dass auch andere Bodenbrüter davon profitieren. In Feuchtwiesengebieten der Niederlande wurde mehrfach nachgewiesen, dass die Brutverluste der Bodenbrüter insgesamt niedriger sind, je größer die Siedlungsdichte der Kiebitze in einem Gebiet ist [1]. Dies gilt sowohl für fliegende Beutegreifer wie Rabenvögel, Greifvögel, Reiher, Störche oder Möwen als auch für Bodenprädatoren wie Fuchs und Marder. Von großem Vorteil ist dabei, dass Kiebitze ebenso nacht- wie tagaktiv sind und auch während der Nacht Beutegreifer wahrnehmen können.


Der hübsche Vogel mit der Federhaube und dem grünen Metallglanz war bis vor wenigen Jahren im westlichen Münsterland noch häufig. 2004 zählte die NABU-Ortsgruppe auf dem knapp 80 km² großen Stadtgebiet von Rhede (Kreis Borken) noch etwa 400 Brutpaare, obwohl bereits damals der Bestand schon deutlich zurückgegangen war. Im Jahr 2020 waren es bereits unter 50 Paare und heute liegt der Bestand noch deutlich niedriger. Der ehemalige Charaktervogel der münsterländischen Kulturlandschaft steht vor dem Aussterben.


Allzu gern werden Krähen, Füchse und andere Beutegreifer für die Misere verantwortlich gemacht. In der oben beschriebenen Niederung wird mit maximaler Intensität gejagt: Betonrohrfallen für Füchse, Luderplätze in angrenzenden Feldgehölzen, mehrere Treibjagden in jedem Herbst und Winter, Krähen-Lockjagd mit Attrappen sowie Ansitzjagden auf den in jeder Hecke und jedem Feldgehölz vorhandenen Hochsitzen konnten und können den rasanten Niedergang des Kiebitzbestandes in der Niederung nicht aufhalten. Aus den oben genannten Gründen spielt die Prädation in vitalen Kiebitzvorkommen ohnehin keine große Rolle. Die Gründe für den Bestandseinbruch sind völlig andere:


Ein Großteil der Gelege wird durch landwirtschaftliche Arbeiten zerstört. Kommen Küken zum Schlüpfen, haben diese nur geringe Chancen, erwachsen zu werden. Ihre Nahrung sind Insekten – diese sind durch die extrem intensive Nutzung mit Gülle, Kunstdünger und mehreren Spritzgängen mit verschiedenen Pestiziden kaum noch vorhanden. Ebenso wie Rebhuhn, Feldlerche, Großer Brachvogel und Uferschnepfe haben Kiebitze unter der heutigen Landwirtschaft keine Chance und die exzessive Jagd auf Krähen und Füchse ändert an der Situation nichts. Nur tiefgreifende Änderungen der Agrarpolitik, z. B. eine an ökologischen Gesichtspunkten orientierte Subventionierung und ebenso tiefgreifende Änderungen des Konsumverhaltens der Bevölkerung wären imstande, den Kiebitz vor dem Aussterben zu bewahren. Die beschriebene Bewirtschaftungsform dient in erster Linie der Produktion von Viehfutter für unseren enormen Fleischkonsum. Es bleibt abzuwarten, ob die vom NABU durchgeführte Abstimmung zum Vogel des Jahres 2024 daran etwas ändern wird.

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[1] Teunissen, W., C. Kampichler, F. Majoor, M. Roodbergen & E. Kleyhaag (2020): Predatieproblematiek bij weidevogels. Sovon-rapport 2020/41.


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