Hören | Nachdem es bei den meisten arktischen Gänsearten über Jahrzehnte Bestandszunahmen gegeben hat, stagnieren die Bestände seit ein paar Jahren oder nehmen sogar ab. Lediglich die Nonnengans nimmt noch zu, aufgrund starker Ausweitung ihres Verbreitungsgebietes in nicht-arktische Gebiete (Nord- und Ostseeraum) und, weil sie in Europa bisher nicht oder kaum bejagt werden darf.
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Selbst die nordamerikanischen Gänsearten - Kanada- und Zwergkanadagans, Schnee- und Zwergschneegans, - die in den letzten Jahren für Ärgernisse sorgten, da sie teils Schäden an Agrarkulturen und auch an der Flora der Tundra verursachten, nehmen plötzlich wieder ab.
Passend dazu ergaben die europäischen Gänsezählungen aus dem vergangenen Herbst, dass arktische Gänse, insbesondere Blässgänse (2. Foto von Gabriele Maier), Tundra Saatgänse (3. Foto von Gabriele Maier) und Kurzschnabelgänse (4. Foto), einen extrem schlechten Bruterfolg zu verzeichnen hatten.
Blässgans und Tundra-Saatgans. Bilder: Gabriele Mayer
Eine Erklärung für diese Entwicklung gibt es zwar noch nicht, aber sicher ist bereits, dass der Klimawandel bei den arktischen Gänsen voll zuschlagen wird. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es für die Gänse von Vorteil ist, wenn die arktischen Brutplätze früher auftauen. Doch die rapiden Klimaveränderungen sind mit einer Reihe von Komplikationen verbunden:

1. Ungewöhnlich starke Seiten- und Gegenwinde beim Frühjahrszug verdriften die Gänse in andere Gebiete und sorgen dafür, dass die Brutplätze nicht rechtzeitig und/oder in körperlich schlechter Verfassung erreicht werden. Die Ressourcen für die Brut müssen (vor allem) die (weiblichen) Gänse aus dem Überwinterungsgebiet oder vom Frühjahrszug in die Brutreviere mitbringen, denn wenn die Gänse im Brutgebiet ankommen, gibt es dort noch keine Nahrung. Gebrütet wird so, dass der Nachwuchs mit dem Beginn der Vegetationsperiode schlüpft, damit die (im Regelfall) vegetarischen Gössel ein optimal proteinreiches Futter vorfinden.
2. Wenn sich die Vegetation in den arktischen Breiten im Frühjahr schneller als bisher entwickelt, schlüpfen die Gössel nicht mehr zum Zeitpunkt des optimalen Nahrungsangebotes und der Bruterfolg ist gefährdet.
3. Unberechenbares Wetter und späte Wintereinbrüche fordern Opfer unter Gelegen, Gösseln und auch Brutvögeln, zum Beispiel wenn brütende Gänse auf ihren Nestern zugeschneit werden.
4. Der Lemmingzyklus ist zusammengebrochen. Bisher vermehrten sich Lemminge alle 3-4 Jahre besonders stark. Nur in diesen Jahren brüteten Schneeeulen und viele Gerfalken erfolgreich - und im Umfeld ihrer Nester auch die Gänse. Fehlen die Lemminge, ernähren sich Polarfuchs und der sich im Zuge des Klimawandels immer weiter nach Norden ausbreitende Rotfuchs von Gänseeiern und Gösseln.
5. Taut der Permafrostboden, verringert sich das Nistplatzangebot für Gänse dramatisch, denn im Schlamm kann man kein Nest bauen. Dieses Problem hat bereits eine nordostamerikanische Kanadaganspopulation veranlasst, ihr Brutgebiet nach Westgrönland zu verlagern, wo bisher nur die Grönland-Blässgans brütete, eine deutlich unterscheidbare Unterart der Blässgans. Seither brütet dort keine Gans mehr erfolgreich (die einzig gute Nachricht: die Gründe dafür sind wohl in Untersuchung).
6. Durch milde Winter im Überwinterungsgebiet bleiben Endo- und Exoparasiten aktiv und können arktische Brüter, die eigentlich vor den Parasiten in die Arktis fliehen, infizieren und von diesen in die Arktis verschleppt werden. Die Jungensterblichkeit würde dramatisch ansteigen. Auch dies ist ein Grund für Gänse, ihr Überwinterungsgebiet möglichst dicht an der Schneegrenze zu wählen, also immer weiter nach Norden oder in Europa nach Osten zu verlagern.
Die Zukunftsaussichten der arktischen Gänse sind damit mehr als düster. Im Gegensatz dazu scheinen Berichte zu stehen, dass die Zahl der an der Nordseeküste (Niederlande bis Dänemark) überwinternden Gänse über die Jahrzehnte stark zugenommen hat. Um dies einzuordnen, muss man das ganze Bild kennen. Nicht allein Bestandszunahmen sondern Zugwegverlagerungen sind dafür verantwortlich. Viele, einst in Südosteuropa liegende Überwinterungsgebiete wurden schon beinahe komplett aufgegeben. So gab es zum Beispiel die ersten Überwinterungsgruppen der Blässgans in Mitteleuropa erst nach 1950. Das frühere Hauptüberwinterungsgebiet dürfte Griechenland und daran angrenzende Bereiche gewesen sein.
So haben wir wieder einmal die Situation, dass diejenigen, die am stärksten zum Problem, hier die Gefährdung arktischer Gänse, beitragen - nämlich wir -, den Handlungsbedarf erst als letzte mitbekommen werden. Zumal Gänse aufgrund ihrer hohen Lebenserwartung über mindestens ein Jahrzehnt über schwerwiegende Probleme hinwegtäuschen können - bis die Populationen überaltert und nicht mehr zu retten sind.
Arten- und Klimaschutz, die größten - existenziellen - Herausforderungen unserer Zeit, spielen jedoch in der aktuellen Wahlkampfdebatte überhaupt keine Rolle. Wir wissen bereits, was wir mit unserem Verhalten anrichten, wir können es täglich spüren, und trotzdem - und das deprimiert mich am meisten - gibt es immer noch Menschen und politische Parteien, die den menschlichen Einfluss am Klimawandel leugnen. Ich sehe wirklich schwarz, denn wir werden kein Problem lösen können, wenn wir uns nicht einmal darauf einigen können, dass es existiert.
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