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Über Zugvögel, Standvögel, Lebensraumverluste und Jagd

  • Dr. Martin Steverding
  • 1. Okt.
  • 3 Min. Lesezeit

Der Himmel ist klar über dem kleinen Ort Vente am Kurischen Haff, der größten Lagune der Ostsee. Die Fernsicht ist gut, die riesigen weißen Dünen der Kurischen Nehrung sind am Westhorizont deutlich zu sehen. Gute Bedingungen an einem der besten Vogelzugbeobachtungspunkte Europas – dieser Septembermorgen verspricht einen Höhepunkt meiner diesjährigen Litauenreise. Zu Fuß gehe ich die rund zwei Kilometer auf der wenig befahrenen Straße parallel zum Ufer des Haffs von meiner Unterkunft zur Landspitze Ventes Ragas. Dort befindet sich eine ornithologische Station und ein kleiner Leuchtturm.


Kohlmeisen, Bild: André Kiener | Im Wildtierkalender oder als Lieblingsmotiv an der Wand
Kohlmeisen, Bild: André Kiener | Im Wildtierkalender oder als Lieblingsmotiv an der Wand

Ununterbrochen zieht ein Strom von Blaumeisen von Busch zu Busch am Wasser entlang nach Südwesten. Am Himmel darüber strömen Buchfinken in dieselbe Richtung, es sind nicht Gruppen oder Schwärme, sondern ein ununterbrochener Fluss aus Vögeln. Dieser wird mit jedem Meter in Richtung des kleinen Kaps dichter, der Vogelstrom wird immer stärker gebündelt. Unzählige Blaumeisen, dazwischen Tannenmeisen und Kohlmeisen, stauen sich in den letzten Büschen vor dem Ende der Landzunge, bis schließlich 200 oder 300 Stück in den blauen Himmel steigen, um die Bucht zu überfliegen.


Permanent rücken unzählige weitere Meisen nach und der nächste Schwarm steigt auf. Am Himmel darüber strömen Buchfinken, Stare, Rauchschwalben und ganze Wolken von Eichelhähern über mich hinweg. Viele Vögel biegen an der Landspitze nach Osten oder Südosten ab, um der Küste zu folgen und weniger weit über das offene Wasser fliegen zu müssen. Die riesigen Fangreusen der ornithologischen Station füllen sich binnen Minuten mit Meisen, die Mitarbeiter kommen mit dem Einsammeln und Beringen kaum nach. Millionen von Vögeln sind auf der Landspitze Ventes Ragas schon beringt worden. An diesem Morgen ziehen hier mehrere 10.000, vermutlich über 100.000 Vögel durch. An den besten Zugtagen können es mehrere 100.000, eventuell sogar Millionen an einem einzigen Tag sein. Die Angaben dazu sind vage, denn der überwältigende Vogelstrom ist unzählbar.


Meisen gelten gemeinhin als Standvögel, die das ganze Jahr in ihrer Brutheimat verweilen. Allerdings gibt es relativ wenige echte Standvögel, die gar kein Zugverhalten zeigen. Die Mehrzahl der Vögel ist zumindest Teilzieher, von denen insbesondere nördliche Populationen ziehen. Blaumeisen sind keine besonders ausdauernden Flieger. Sie hangeln sich beim Zug von Busch zu Busch und überqueren ungern offenes Land oder Wasser. Ihre Zugstrecken sind eher kurz. Auch die Buchfinken sind Kurzstreckenzieher, meistern aber deutlich längere Strecken als die Meisen. Sie wandern im Herbst aus Nord- und Osteuropa Richtung West- und Mitteleuropa. Die Schwalben dagegen sind Fernzieher. Sie haben noch Tausende von Kilometern vor sich, wenn sie entlang des Kurischen Haffs fliegen, denn sie überwintern in Afrika.


Die Leistungen der Zugvögel sind enorm: Wenige Gramm Fett sind genügend Energie, um kleine Vögel über unglaubliche Distanzen zu tragen. Manche Arten sind imstande, Tausende von Kilometern ohne Pause mit enormen Geschwindigkeiten zu ziehen. Eine besenderte Pfuhlschnepfe überquerte im Nonstopflug den Pazifik von Alaska nach Neuseeland – 11.600 km in acht Tagen ohne Pause, ohne Nahrungsaufnahme (u. a. nabu.de/news/2007/07146.html).


Die weitaus meisten Zugvögel aber benötigen auf ihrer Reise viele Rastgebiete, um Energie für die weiten Flüge zu tanken. Sie sind davon abhängig, dass sie unterwegs geeignete Lebensräume und Nahrungsplätze finden. Werden in Afrika Feuchtgebiete oder Wälder zerstört, kann dies auch zum Verschwinden von Vögeln in Deutschland führen. Werden hierzulande Lebensräume zerstört oder wird auf Zugvögel geschossen, kann dies den Einbruch von Populationen in Nordeuropa oder Sibirien bewirken. Die Jagd auf Waldschnepfen oder nordische Gänse in Deutschland, die Jagd auf Singvögel oder Greifvögel im Mittelmeerraum und die Lebensraumzerstörung in praktisch jedem Land haben somit Folgen, die über die Orte des Geschehens weit hinausgehen. Die Zugvögel zeigen auf, dass der Schutz von Arten und Lebensräumen eine globale Dimension hat und dass die ökologischen Zusammenhänge weder Staatsgrenzen noch Grenzen von Kontinenten kennen.

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